Die Erdfresserin : Roman

Rabinowich, Julya, 2012
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-06195-8
Verfasser Rabinowich, Julya Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen, Novellen
Schlagworte Wien, Illegalität, Sowetunion, Emigrantin
Verlag Deuticke
Ort Wien
Jahr 2012
Umfang 235 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Julya Rabinowich
Annotation Sehnsucht nach Europa Julya Rabinowichs Roman "Die Erdfresserin" Der Vater, der Sohn, der Golem. Der Vater, der die Familie verlassen hat, der kranke, pflegebedürftige Sohn, den die Icherzählerin Diana ihrerseits zurückgelassen hat, der Golem, der ihr den Weg weist. "Die Erdfresserin" ist nach der im Vorjahr bei Deuticke erschienenen "Herznovelle" das dritte Buch der in St. Petersburg geborenen und seit Kind­heitstagen in Wien lebenden Autorin Julya Rabinowich. Sie erzählt darin die Geschichte einer Frau aus dem Osten, die sich im Westen prostituiert, um die Daheimgebliebenen ernähren zu können. In Westeuropa, dem "fruchtbarsten Gebiet von allen". "Da gibt es Korn, da gibt es Arbeit. Alle wollen wir nur einen Löffel vom Honig, ein Gläschen nur von der Milch, die Europa heißt." Diana ist eine Frau mittleren Alters. Sie kommt aus einem Dorf irgendwo in Russland oder der Ukraine, in dem es nichts gibt außer einer Bushaltestelle. Schon gar keine Arbeit. Sie hat einen offenbar bereits erwachsenen Sohn, über dessen Herkunft und dessen Krankheit wir nichts Näheres erfahren und dessen Ver­bringung in eine korrupt geführte psychiatrische Klinik am Ende droht. Er wird von Dianas Mutter und Schwester gepflegt, wenn Diana, die früher einmal Theaterregisseurin gewesen ist, für Wochen und Monate auf den reichen Straßen in Städten wie Wien oder Rom arbeitet und Geld für die dringend benötigten Medikamente schickt. Dann also der Vater, der nicht nur eine kleine Bibliothek, sondern auch seine Lieblingspfeife zurückgelassen und mit seinem Verschwinden der ältesten Tochter Diana die Bürde auferlegt hat, für die Familie zu sorgen. Und schließlich der Golem als mythischer Verbündeter, den Diana in Momenten der Sehnsucht, der Einsamkeit heraufbeschwören kann. Sie wolle kein Kind haben, denkt Diana, nachdem sie beim Stöbern in den Büchern des Vaters jenes über den Golem entdeckt hat, "ich wollte einen Golem". Diesen Golem, der Diana viele Male den Heimweg gezeigt hat, der aus ihrer Lust entsteht, in der Erde zu wühlen, sich mit dem feuchten Erdreich zu "vermischen, vermengen und neu zu formen aus neuem Ton und neuen Rippen" (oder ist hier nicht eher Lehm gemeint?), möchte man als Symbol für den Heimatboden jener Vertriebenen und Getriebenen interpretieren, die auf weiten Landstraßen und Feldwegen umherirren, von Grenzen angezogen und abgestoßen werden. Der Biss in die Erde erinnert an "nahrhaftes Brot, russisches Brot, das viel dunkler und gehaltvoller ist als hier". Am Ende wird er Diana, die in der römischen Mythologie die Göttin der Wälder ist, in den Wald und in die Irre führen. Soweit so gut. Doch dann drängt sich auf einmal ein Wiener Polizist als unerbetener Gast in die Figurenkonstellation dieser "Erdfresserin". Ein dicker, schnaufender Mann, der sich als Leopold vorstellt und wegen eines Horoskops bemüßigt fühlt, seinen Tag mit einer guten Tat abzuschließen. Der Diana bei einer Razzia in dem Wiener Rotlichtlokal aufgabelt, in dem sie arbeitet und wo sie hinter der Theke Dostojewskij liest. Leo, der Polizist, bei dem Diana unterkommt, der eben noch mit ihr in den Prater geht und dann ganz plötzlich schwer krank und bettlägrig ist. Diana überwacht ihn, schirmt ihn gegen die Einmischung seiner Eltern und seiner misstrauischen Exfrau ab. Sie verbringt einen heißen Sommer neben diesem schwitzenden, stinkenden Mann im Bett und hat am Ende doch nichts davon. Rabinowich lässt russische und Wiener Impressionen einander abwechseln. Die alte Heimat gestaltet sie als ein Land der Namenlosen: die Mutter, die die Türschwelle immer sauber geputzt hat für den Fall, dass der Vater doch wieder heimkehrt; die jüngere Schwester, die gegenüber der älteren den Kürzeren gezogen hat und jetzt festsitzt in der Provinz in einem alten, dunklen, schwer beheizbaren Haus, das mit Kindheitserinnerungen gefüllt ist. Auf der anderen Seite Nastja, ihre folgsame Komplizin erst im Theater-, dann im Rotlichtmilieu, und eben Leo, der so gern ins Schweizerhaus geht und Bier trinkt und Stelze isst und seine Freundin aus Osteuropa dann gönnerhaft fragt: "Feiert ihr auch, so wie wir?" Die Protagonistin antwortet ausweichend und denkt, sie wolle "nicht schon wieder als Spiegel herhalten müssen. Das ist etwas, das den Einheimischen scheinbar sehr wichtig ist - diese vielen, drängenden Fremden erst gehörig abzuwerten, sich dann aber in einer seltsamen, fast maso­chistischen Regung mit Lust von ihnen beobachten und erklären zu lassen, sich in dem Blick des zuvor Erniedrig­ten zu sonnen und sich vermutlich besser und heiler zu fühlen, als sichere, bequeme Bewohner eines sicheren, bequemen Landes, das mit Neid belagert wird, um es irgendwann doch noch zu besetzen". Leo hat schließlich, mehr aus Eigennutz denn aus Gutmütigkeit, Diana vor der Abschiebung bewahrt - was aber auch die einzige Andeutung der politischen Dimension des Buches ist, die der Verlag doch auf dem Klappentext anpreist ("ein politischer Roman"). Ehe Rabinowich ihre Geschichte mit symbolreichen Wegbeschreibungen der vom Golem geführten, heimwärts irrenden "Wandererin" bedeutungsschwanger ausklingen lässt, wird allerdings noch eine weitere Station dazwischengeschoben: Diana landet - in Wien - in der Psychiatrie. Dort wird sie offenbar gegen ihren Willen festgehalten und täglich einem Arzt, Dr. Petersen, vorgeführt: "Ich mag das, wie er mir konzentriert zuhört", heißt es da. "Ich brauche lange, um mir einzugestehen, dass ich geradezu darauf stehe, in diesen aufmerksamen Blick gefasst zu werden wie ein Edelstein. Meine Worte sind kostbar, meine Lügen und meine Geschichten haben Wert." Dr. Petersen, ein sanftmütiger, wohlmeinender Gott in Weiß, stellt Diana nicht nur vor Augen, dass sie, sobald sie das Spital verließe, abgeschoben würde, er vermittelt ihr auch die Beratung durch eine Sozialarbeiterin. Diese gesamte Spitalsepisode, die Sitzungen mit dem Psychiater, die Diana wie kleine rhetorische Kampf­sportübungen so gewitzt für sich entscheidet, und insbesondere das wohl unfreiwillig plumpe, klischeehaft zugespitzte Gespräch mit der Sozial­arbeiterin, gehören zu den Tiefpunkten der "Erdfresserin", die ein eigentümlich heterogenes, manchmal geradezu unentschlossenes narratives Gewebe darstellt. Der Wiener Polizist, und noch weniger der Wiener Psychiater Petersen, korrespondieren nicht mit der Lebenswelt der Protagonistin - und als Entwurf einer Gegenwelt sind sie schlichtweg Plattitüden. Überhaupt scheint es, als würde Rabinowichs Erzählkunst dort an Kraft zu verlieren, wo sich die Bezüge zur Realität in den Vordergrund drängen. Zu den gelungeneren Passagen dieses Buches zählen manche der "russischen" Episoden; die Rückblicke in die scheinbar weit zurückliegende Vergangenheit, in der die Kindheit nach Rosen und wilden Waldbeeren duftet, oder etwa die skurrile Beschreibung einer längeren Reise zur Beschaffung von Klopapier: Auf einem großen Feld verkaufen in kleinen Zelten Fabrikarbeiter, denen die Löhne nicht mehr bezahlt wurden, Klopapierrollen. Und obwohl es überall nur ein- und dieselbe Ware zu kaufen gibt, flanieren die Kunden wie auf einem Jahrmarkt von einem Verkaufsstand zum nächsten. Der Mutter aber, die die lange Reise zum Klopapierkauf in Begleitung ihrer beiden Töchter unternommen hat, geht es vor allem darum, die neidvollen Blicke der Nachbarn auf sich zu ziehen, die nicht nur die Klopapierrollen zu sehen bekommen, sondern auch die Sauberkeit ihres Haushalts bewundern sollen. *Literatur und Kritik* Isabella Pohl

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