Mein erster Mörder : Lebensgeschichten

Vertlib, Vladimir, 2006
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-06031-9
Verfasser Vertlib, Vladimir Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen, Novellen
Schlagworte Nationalsozialismus, Lebensgeschichten, 20. Jahrhundert, Entwurzelung
Verlag Zsolnay
Ort Wien
Jahr 2006
Umfang 252 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Vladimir Vertlib
Annotation Geschichten aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts Vladimir Vertlibs »Mein erster Mörder« Lebensgeschichten nennt Vladimir Vertlib diese drei Erzählungen im Untertitel des Buchs. Man könnte, mit einer gebräuchlicheren Genrebezeichnung, auch sagen: Reportagen. Und wie es die Gesetze und Voraussetzungen des Genres mit sich bringen, bewegt sich der Autor hier im Grenzgebiet zwischen Dokumentation und Fiktion. Er tut es auf kluge, wendige Weise. Wie ein Fisch im Wasser: im Wasser der Anekdoten, der Erinnerungen, der geschichtlichen Umstände, in denen sich die Einzelschicksale entfalten. Alle drei Erzählungen spielen nämlich zum weitaus größten Teil in einer Zeit, die Vertlib aufgrund seines Geburtsdatums selbst nicht kennengelernt hat, in der Mitte des schwierigen, extremistischen, vielfach grausamen 20. Jahrhunderts. Der Autor hört zu und nimmt auf, und er bewerkstelligt den Austausch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der Wechsel zwischen Distanz und Identifikation mit den von ihm befragten Personen, den Zeitzeugen, das Hin und Her zwischen Präsens und Präteritum, zwischen Zweifel und Gewißheit, geht ihm leicht von der Hand. Hier liegt die eigentliche Stärke des Erzählers Vertlib. Und diese Stärke kann sich um so eher durchsetzen, je mehr er sich auf das von den befragten Personen mitgeteilte Material verlassen kann. Uneingeschränkt ist dies der Fall bei der längsten der drei Erzählungen, Ein schöner Bastard, wo sich die Dynamik der vielfältigen Geschichten gleichsam aus sich selbst heraus - oder eben aus dem Mund der Erzählerin, der Vertlib sein Ohr leiht - entfaltet, in einer Dynamik bis zum Schluß, der dann leider viel zu abrupt eintritt, so als hätte den Autor oder seine Erzählerin plötzlich die Kraft verlassen. Wichtig ist diese Geschichte vor allem durch ihr Hauptthema, die doppelte Verfolgung von deutschsprachigen Juden zuerst in der Zeit des herrschenden Nationalsozialismus und dann in der sogenannten Volksdemokratie. Die Aufarbeitung der Geschehnisse nach dem Zweiten Weltkrieg, des tschechischen Revanchismus gegen alles Deutsche, der Installierung eines anderen Totalitarismus, der für die Betroffenen zumeist ebenso bedrohlich war wie der vorhergehende, hatten die aufgeklärten Kräfte lange Zeit den Deutschnationalen überlassen (unter denen sich einige Österreicher besonders hervortaten). Der Bericht Renate Reisners, in dem ihr Vater, Friedrich Reisner, die Hauptrolle spielt, veranschaulicht ohne Rekurs auf irgendwelche Theorien, nur aus ihrer Lebenserfahrung heraus, wie die Totalitarismen einander auf den Fuß folgten, und er zeigt Parallelen bei der Technik der Verbreitung von Angst und Kontrolle. Wenn die Staatsmacht die Verfolgung einer mißliebigen Person aufgibt, dann oft nur um den Preis, daß diese Person für sie arbeitet - eine Zwickmühle, in die im "realen Sozialismus" wungen wurden. "Unglaublich, wie sich alles wiederholt, denkt Renate. Vor zehn Jahren hat die Gestapo versucht, meinen Vater anzuwerben." Und jetzt ist es der kommunistische Geheimdienst, der sie dazu bringen will, Informationen für ihn zu sammeln. Nur wenn sie darauf eingeht, heißt es, darf sie ihren inzwischen nach Wien emigrierten Vater besuchen. Der Vater ist Sozialdemokrat und Jude, den Nationalsozialismus überlebt er nur mit Mühe. Als er im Mai 1945 zum ersten Mal sein Versteck verläßt, droht ihn eine aufgebrachte Meute von Tschechen zu lynchen. Das ist die Anfangsszene der Erzählung - die stärkste im ganzen Buch, surrealistisch wirkend und zugleich dokumentarisch, vollkommen glaubwürdig. Hier trifft zu, was oft gesagt wurde, daß die Wirklichkeit oft unglaublicher ist als das Erfundene. Für Vertlib gilt das ganz besonders, denn dort, wo er extrapoliert, oft gezwungenermaßen, weil die Dokumentation lückenhaft ist, ist die Überzeugungskraft des Erzählten nicht immer so groß. In der Dokumentarliteratur hängt das Gelingen in erster Linie von der Auswahl, dem Einfühlungsvermögen des Autors und dem Zuhörenkönnen ab. Vertlibs Lebensgeschichten sind dafür ein Beweis. (Die beiden anderen Geschichten in diesem Triptychon berichten von einem Mann, der einen jungen reichen Tunichtgut ermordet, anscheinend, wie die Komposition des Textes suggeriert, um anstelle seines in der Kriegs- und Nachkriegszeit allzu feigen, um nicht zu sagen: gemein-feigen Vaters Mut zu beweisen, und von einem jungen Österreicher, der dem deutschen Heer entgehen wollte, jedoch auf der Flucht in Triest geschnappt, in Gefängnisse gesteckt, gefoltert und schließlich ins Heer inkorporiert wurde.) *Literatur und Kritik* Leo Federmair

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